Krieg. Geschichten aus der Ukraine

Ukrainer erzählen, wie sie im Krieg leben

„Zu uns sind die Russen gekommen, haben Waffen auf uns gerichtet und gesagt, dass sie die Schlüssel von unserem Auto brauchen“, Anastasija, 22 Jahre, Trostjanez

von | 20 März 2022 | Krieg. Geschichten aus der Ukraine

Illustrated by Lidiia Holosko

„Fliehen aus der Heimatstadt ist ein wichtiger Schritt. Ein paar Mal haben wir darauf verzichtet, sogar wenn es einen grünen Korridor gegeben hat. Wir haben geglaubt, dass Trostjanez befreit würde. Wir haben uns erst danach entschieden, als zu uns die Russen gekommen sind, ihre Waffen auf uns gerichtet und gesagt haben, dass sie den Schlüssel von unserem Auto bräuchten. „Niemand wird verletzt, wenn wir diese Schlüssel bekommen“, sagten sie. Ab diesem Zeitpunkt wurde es furchterregend. Vor dem Krieg hat Anastasija als Fitnesstrainerin gearbeitet, jetzt muss sie mit ihrem Ehemann und ihrem Sohn von der russischen Okkupation nach Poltawa fliehen. 

Die Frau erzählt, dass schon am 24. Februar die Panzer in Trostjanez eingefahren sind, einer Kleinstadt in der Oblast Sumy, 30 km von der russischen Grenze entfernt. „Die Eindringlinge machen in der Stadt alles, was sie möchten: Sie sammeln Handys und stehlen Autos, rauben Häuser und Geschäfte aus, vertreiben die Menschen aus den Häusern. Sie haben alles zerstört und verbrannt, die Straßen wurden zerstört. Und sie haben sich stationiert und sind überall hingegangen, wie bei sich zu Hause. Ich verstehe bis heute nicht, wie so etwas im 21. Jahrhundert möglich sein kann? Wie kann man straflos Kinder töten und alles überall zerstören? “

In Trostjanez gibt es keinen Strom, keine Heizung, keine Verbindung, alle Geschäfte sind geschlossen oder bestohlen es konnte nirgendwo Essen zu bekommen. Von der Stadt in der Okkupation bleibt nichts übrig. 

„In Trostjanez sind unsere Eltern geblieben, weil sie die alten Großeltern nicht verlassen konnten. Über die Situation in der Stadt erfahre ich von ihnen. Das Haus neben den Nachbarn wurde zerbombt, mein Vater hat einen verletzten Mann ins Krankenhaus gebracht. Das Krankenhaus wurde auch beschossen, obwohl es die Eindringlinge auch benutzt haben. Die Frauen bringen in den Kellern die Kinder zur Welt, verstecken sich da mit den Neugeborenen“. 

Schon geflüchtet, hat Anastasija erfahren, dass die Eindringlinge das Haus von den Eltern des Ehemannes ausgeraubt haben. „Durch das Fenster wurde eingebrochen und es wurde begonnen, alle möglichen Gegenstände hinauszutragen. Als mein Vater darum gebeten hat, die wichtigen Dokumente nicht zu nehmen, wurde er aus seinem eigenen Haus hinausgeschmissen. Ihm wurde gesagt, nach draußen zu gehen und erst in anderthalb Stunden wieder zu kommen. Die Nachbarn haben angerufen und erzählt, dass aus dem Haus zehn Pakete von Sachen weggebracht wurden. Es wurden Scooter, Essen, Goldschmuck, Geld, Handys, sogar Kleidung weggenommen! Wozu brauchen sie das alles? “

Nastja erinnert sich daran, dass sie sich erst vor Kurzem auf den ersten Geburtstag ihres Sohnes vorbereitet haben. „Wir waren so glücklich, haben das Fest geplant… Stattdessen haben wir im Keller während der Beschüsse und Explosionen gefeiert. Wir wollten das Kind retten, damit es weiterhin ein normales Leben haben kann.“ 

Die Familie hat sehr wenige Sachen mitgenommen und ist durch den Evakuationskorridor bis zur nächsten friedlichen Stadt – Poltawa gefahren: „Wenn sich der Krieg ausdehnt, werden wir in den Westen umziehen, aber ehrlich gesagt möchten wir das nicht.“

Nastja hat Angst, dass sie in ihre Heimatstadt zurückkommt, aber ihr Haus gibt es nicht mehr. „Die Mutter hat dieses Haus allein mit drei Kindern gebaut, mit solcher Liebe jedes Zimmer eingerichtet! Ich träume davon, dass wir etwas haben, wohin wir zurückzukommen können. Wenn es zu Ende ist, will ich Führungen in Trostjanez machen und auf meine Stadt sehr stolz sein.“ 

Am 28. März hat das ukrainische Militär Trostjanez von den Eindringlingen befreit. 

Eintragsdatum – 20. März 2022

Übersetzung: Dana Kachan

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