Krieg. Geschichten aus der Ukraine

Ukrainer erzählen, wie sie im Krieg leben

„Man hat uns gesagt, wir sollten nach Hause gehen. Aber uns wurde klar, dass es kein Zuhause mehr gab“, Iwanna Hrabowljak, 23, Hostomel

von | 18 März 2022 | Hostomel

Illustrated by Tanya Guschina

„Wir sind durch die Straßen gefahren, die sich in eine Müllhalde aus verbranntem Material verwandelt hatten. Als wir in die andere Richtung abgebogen sind, haben wir einen Panzer der Besatzer gesehen. Sie haben auf unser Auto geschossen und mein Vater hat heldenhaft sein Bestes getan, um uns zu retten. Als das Auto gegen etwas geprallt ist, habe ich gehört, wie mein Vater immer noch auf das Gaspedal getreten ist. Anscheinend war er zu diesem Zeitpunkt bereits tot und das Pedal war immer noch durchgetreten. Wir waren noch am Leben. Wir mussten da raus“, erzählt die 23-jährige Iwanna Hrabowljak. Sie verlor ihren Vater bei der Evakuierung aus Hostomel. Andere Verwandte überlebten um ein Haar.

Vor dem Krieg hatte die junge Frau mit ihrem Vater, ihrer Stiefmutter Julia und ihrer Halbschwester Sascha in einem Privathaus gelebt. Hier versteckte sich die Familie vor Explosionen – zuerst im Badezimmer und dann in einem kleinen, kalten Keller. „Dort haben wir alle Decken heruntergeholt, jeder hat drei Pullover angezogen. Meine Schwester hatte eine Bronchitis, sie hustete fürchterlich. Am 3. März haben in unserem Hinterhof die Panzer den Zaun durchbrochen und sind hin und her gefahren. Rundherum hat alles gebrannt.“

Die Familie beschloss zu fliehen. „Wir nahmen einen Nachbarn mit. Mein Vater ist am Steuer, Julia neben ihm, meine Schwester neben mir und mein Nachbar hinter meinem Vater gesessen.“ Iwanna erinnert sich, wie alle saßen, als die Besatzer anfingen, auf Autos zu schießen, als sie durch den Nachbarort Butscha fuhren. Gerade diese Sitzordnung im Auto war es, die zwei Schwestern das Leben rettete. Der Vater drehte das Auto um und hielt seine linke Seite in den Beschuss. „Ich habe die Tür geöffnet und bin schnell weggerannt. Meine Schwester ist mir gefolgt. Dann hat sie mich gerufen. Als ich mich umgedreht habe, habe ich gesehen, dass mit ihrem Arm etwas nicht stimmte.

Ich bin zurückgelaufen und habe gesehen, wie Julia hinter uns hergelaufen und dann gestürzt ist. In diesem Moment dachte ich, dass auch sie getötet worden war. Schließlich habe ich eine Kellertür gesehen, habe angeklopft und wir wurden hereingelassen.“ Sascha und Iwanna kamen als erste, dann kam Julia lebend an.

Die neunjährige Sascha verlor im Keller das Bewusstsein. Sie wurde an der Innenseite ihres Arms oberhalb des Ellbogens verletzt.

„Blutige Spuren auf dem Asphalt sind hinter uns gezogen. Es wurde an der Kellertür geklopft und geschrien: ‚Macht auf, ihr Schlampen. Dann sind zwei Schüsse gefallen. Aber wir haben uns nicht bewegt und geschwiegen und sie sind weggegangen.“

In der Unterkunft gab es Verbindung, also bat Iwanna über soziale Netzwerke und per Telefon um Hilfe. „Wir haben darauf gewartet, dass jemand kommt und uns abholt. Sascha wurde immer schwächer, ihr Arm begann schwarz zu werden und schlecht zu riechen.

Zum Glück gab es in der Nähe Leute, die sich mit Medizin ausgekannt haben. Sie haben den Arm gereinigt. Meine Schwester hat mit aller Kraft durchgehalten, sie hat oft deliriert.“

Zwei Tage lang kam keine Hilfe, weil die Kämpfe weitergingen. Saschas Familie begriff, dass sie nur einen Schritt vom Tod entfernt war. Ein Arzt aus dem Keller legte ihr den Verband an und versicherte, dass das Mädchen in das Krankenhaus von Butscha gebracht und unter einer weißen Fahne getragen werden müsse. Es gab keine andere Lösung, niemand konnte sie abholen – weder die Territorialverteidigungskräfte, noch ein Krankenwagen, noch das Rote Kreuz.

„Der Opa Lenja und der Junge Artem aus dem Keller haben uns geholfen. Die Straße schien endlos zu sein. Explosionen und Schüsse waren unaufhörlich. Es war wie ein Glücksspiel – entweder überlebst du oder nicht. An einer Kreuzung begannen sie, direkt in unseren Rücken zu schießen. Es war unwahrscheinlich, dass sie daneben geschossen haben – ich denke, das war ihr „Spiel“.

Im Krankenhaus hat man uns gesagt, dass der Arm amputiert werden müsse. „Man hat uns gesagt, nach Hause zu gehen. Aber uns wurde klar, dass wir es nicht mehr hatten.“

Iwanna fand Zuflucht vor dem Krankenhaus. Ihrer Schwester wurde der Arm amputiert , die Ärzte beruhigten sie die ganze Nacht und dann durfte ihre Mutter bei ihr bleiben. „Ich wusste, dass sie in Sicherheit sein würden, denn die Besatzungstruppen brachten ihre Verwundeten in dieses Krankenhaus. Dementsprechend haben sie es nicht beschossen“, erklärte Iwanna.

Die Menschen, die Iwanna beherbergten, boten ihr an, mit ihnen die Stadt zu verlassen, als der Vorsitzende des Dorfrates ankündigte, dass es eine Evakuierung geben würde. Iwanna zögerte, da sie Julia und Sascha nicht verlassen wollte, aber schließlich fuhr sie weg. „Ich habe die ganze Zeit gebetet. Es wurde geschossen, es gab Explosionen, Panzerkolonnen, Kontrollpunkte, eine unglaubliche Anzahl von Soldaten. Sie haben die Autos überprüft und in die Kofferräume geschaut. Als wir auf der Autobahn Richtung Schytomyr angekommen sind, dachten wir schon, wir wären gerettet, aber dann haben die Bombenangriffe angefangen. Zweimal ist etwas in unser Auto geflogen, es gab Dellen. Dann wurde die Verbindung hergestellt und wir haben ukrainische Kontrollpunkte gesehen. Es war ein so unrealistisches Gefühl!“

Auf dem Weg nach Lwiw erhielt Iwanna eine Nachricht, dass Julia und Sascha evakuiert worden waren. Dank der Hilfe von wohlwollenden Menschen und Stiftungen befinden sie sich nun in Italien. Sascha unterzog sich einer weiteren Operation und bereitet sich nun auf die Rehabilitation vor und wird danach eine Prothese bekommen.

Die Emotionen und Gefühle holen die junge Frau erst nach zehn Tagen in Sicherheit ein. Iwanna weiß, dass sich die Besatzer in den Höfen von Hostomel niederließen. „Ich habe ein Haus und ein Auto, die dort zurückgelassen wurden, ich weiß nicht, ob sie intakt sind. Ich kann immer noch nicht glauben, dass mein Vater nicht mehr bei uns ist. Leider konnten wir nicht einmal seine Leiche finden. Er ist ein Held und ich liebe ihn so sehr! Er war unsere Stütze.“

Geschrieben am 18. März 2022. 

Übersetzung: Kateryna Smirnova

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