Krieg. Geschichten aus der Ukraine

Ukrainer erzählen, wie sie im Krieg leben

„Neunzehn Hunde haben uns in verschiedene Richtungen gezogen“, Anastasija Tycha, 20 Jahre, Irpin

von | 22 März 2022 | Irpin

„Ich habe mich zusammen mit meinem Ehemann und mit einem Haufen von Hunden und Katzen in Sicherheit gebracht. Wir sind die Strecke von drei Kilometern drei Stunden lang gegangen. Neunzehn Hunde haben uns in verschiedene Richtungen gezogen. Sie sind wie eine Herde gegangen. Das war unreal! Wenn die Evakuierung nicht notwendig gewesen wäre, hätte ich so etwas auf keinen Fall getan. Bis heute bemühe ich mich, zu mir zu kommen: Ich habe Prellungen, ein Finger ist gebrochen. Ich will nicht, dass sich dies noch einmal wiederholen würde”, sagt die 20-jährige Anastasija Tycha.

Am neunten März ging Nastja mit ihrem Ehemann, 19 Hunden und fünf Katzen aus dem Haus in Irpin weg. Ein Teil waren ihre eigenen Tieren, ein Teil wurde von der Straße geholt, ein Teil wurde bis zu ihrem Lebensende betreut, wenn die Menschen ihre alten Tiere abgaben, doch ihre Verpflegung bezahlten. Fast die Hälfte der Hunde war behindert und war in Rollstühlen. Aber selbst einen von ihnen zu verlassen wäre ihnen nie eingefallen, gesteht Nastja. Sie versteht nicht, wie die Besitzer einen kleinen Hund oder eine kleine Katze zu Hause zurücklassen können. Mit großen und aggressiven Hunden ist es schwerer. 

In den ersten drei Tagen der Beschüsse in Irpin reagierten die Tiere heftig, zitterten, schauten ständig nach oben, in die Richtung von Geräuschen. Einige saßen in den Armen. Mit der Zeit beruhigten sich die Tiere und gingen sogar während der Beschüsse im Hof Gassi. Nastja und ihr Ehemann arbeiten von Zuhause, darum gab es keine Notwendigkeit, irgendwohin hinauszugehen, außer in den Hof. 

Nastjas Ehemann ist Ausländer, an den ersten Kriegstagen schlug er vor, dass alle zusammen zu seinen Eltern nach Tschechien fahren sollten. Sie beschlossen jedoch, in der Ukraine zu bleiben, weil die Tiere dort Hilfe brauchen. Seit dem Kriegsbeginn vermehrte sich die Anzahl der Tiere, die die Besitzer verließen, so hilft das Ehepaar, Hunde und Katzen zu den Wohltätigkeitsorganisationen Deutschlands und Spaniens zu bringen. 

Die Familie entschied sich erst, die Stadt zu verlassen, als in den Nachbarhof eine Bombe fiel, die nicht explodierte. Zu dieser Zeit gab es in Nastjas Haus kein Gas, keinen Strom und kein Wasser. Es war sehr kalt im Haus. Die Frau sammelte mit ihrem Ehemann alle Tiere und ging zu Fuß von zu Hause weg. 

“Als wir weggegangen sind, gab es Beschüsse und Explosionen. Unterwegs haben wir nur eine Explosion irgendwo weit weg gehört. Wir hatten Glück, weil eine Stunde später begonnen wurde, die Menschen auf der Brücke zu beschießen”, erinnert sich Nastja. 

Die junge Frau ist der Territorialverteidigung sehr dankbar. Ihre Kämpfer halfen ihr, die Tiere auf die andere Seite der Brücke zu bringen und ins Auto zu setzen. Bei der Evakuierung rissen sich vier Hunde von der Leine los und liefen weg. Aber Nastja kehrte eine Woche später zurück, um sie zu holen. Zwei Hunde kamen zurück nach Hause, weitere drei heimatlose Hunde  nahm sie auf dem Weg nach Kyjiw mit. Noch einmal fand das alles bei Beschüssen und Explosionen statt.  Das Haus, das das Ehepaar mietete, blieb unversehrt, doch die Straßen sind jetzt leer: Alle sind ausgezogen. 

Als Nastja unterwegs auf der Such nach losgerissenen Hunden war, sah sie auf den Straßen von Irpin ein Rudel von Rassehunden. Außerdem gab es zu dieser Zeit viele heimatlose Hunde, die wegliefen oder aus den beschossenen Tierheimen freigelassen wurden. Die Freiwilligen wissen über dieses Problem und bemühen sich, die gefundenen Tiere ins Ausland zu bringen. Auch besteht jetzt ein Problem mit Futter, besonders für Katzen. Es zu kaufen, ist aktuell fast unmöglich, und es mangelt allen an humanitärer Hilfe. 

Nastja wurde mit ihrem Ehemann, Hunden und Katzen in einem Haus in der Nähe von Kyjiw untergebracht. Dort suchen sie Familien für Tiere, die von den Freiwilligen gefunden wurden. Das Ehepaar behandelt die Tiere, sorgt für sie, füttert sie und gibt sie her, wenn eine neue Familie gefunden wird. Einige Tiere behält das Paar bei sich. 

Die Familie träumt, in das Haus zu ziehen, das noch nicht fertig gebaut ist. Das Ehepaar hofft, dass das Haus unbeschadet bleibt und es dort mehr Platz und Möglichkeit geben wird, den Tieren zu helfen. 

Nastja wendet sich an alle Katzen- und Hundebesitzer, die ihre Haustiere nicht mitnehmen können: „Wenn Sie den Hund verlassen, bitte sperren Sie Ihr Haus oder Ihre Wohnung nicht zu. Besser ihn auf die Straße gehen lassen, andernfalls stirbt das Tier qualvoll. Wenn es keine solche Möglichkeit gibt, dann lassen Sie bitte dem Tier genug Futter und Wasser. Den Freiwilligen wünsche ich durchzuhalten, weil es jetzt viel zu tun gibt.”

Datum der Aufnahme: 16. März 2022

Übersetzung: Dana Kachan

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