Ein Schuss ins Auge. So starb der Vater der 25-jährigen Sofija Denysenko, einer Personalvermittlerin des IT-Unternehmens SoftServe. Sofia lebte zu dem Zeitpunkt in Riwne, und der Krieg holte Sofijas Eltern und andere Verwandte in ihrer Heimatstadt Wasylkiw ein, einer kleinen Stadt in der Oblast Kyjiw. Ihr Vater trat der Territorialverteidigung bei, einer Einheit, die militärische Einrichtungen bewachte. Eines Nachts landeten Raketen auf einem nahe gelegenen Gelände, aber zum Glück überlebte ihr Vater. „Damals haben wir uns gefreut“, erinnert sich Sofija. „Er hat noch so geschrieben: ‚Aus irgendeinem Grund behütet mich Gott‘.“ Aber gleich in der nächsten Nacht kam er ums Leben.
Sofija sagt, das sei sehr schnell passiert – ein Schuss ins Auge. Es gab ein heftiges Feuergefecht, viele Verluste – bis zu 20 Personen. Zur Beerdigung konnte Sofija nicht kommen.
„Meine Mutter hat mich gebeten, nicht hinzufahren, weil es einfach gefährlich gewesen wäre. Ich hätte nicht durch Kyjiw fahren können, sondern die unterschiedlichsten Wege nehmen müssen. Und ich hätte wahrscheinlich ganz lange gebraucht“, sagt Sofija.
„Ich habe mich für die Trauerfeier und für die Beerdigung telefonisch verbunden. Meine Mutter hat mich angerufen und mich alles anhören lassen.“
Sofija hat ihren Vater als einen sehr patriotischen, pro-ukrainischen Mann in Erinnerung, sie sagt, er habe immer ihre falschen Wortakzente korrigiert. Er hatte moderne, europäische Werte, trennte Müll, sorgte sich um den rationellen Umgang mit Ressourcen, obwohl er ein einfacher Dorfbewohner war, vielleicht auch etwas naiv. Er war auf dem Maidan – Sofija erinnert sich, wie ihn ihre Familie dorthin wie zum letzten Mal begleitete. Von Zeit zu Zeit brachte er Sofija und ihrem Bruder das Schießen bei – er sagte, eine solche Fähigkeit sei nicht überflüssig.
„Damals haben wir keinen wirklichen Wert darauf gelegt. Ein Krieg? Klingt beängstigend! Jetzt verstehen wir, dass einige seiner Ideen, wie z.B. einen Schutzbunker zu bauen und das Schießen zu lernen, sehr vernünftig waren. Wenn du eine Waffe hast und schießen kannst, kannst du das Land verteidigen.“
In den ersten Tagen des russischen Angriffs ging Sofijas Bruder kämpfen. Jetzt ist er an vorderster Front. Manchmal antwortet er aufgrund schlechter Verbindung einen ganzen Tag nicht auf die Nachrichten – für Sofija sind es die schwierigsten Momente.
„Diese Ungewissheit und Unsicherheit sind sehr traumatisierend. Es ist so ein beängstigendes Gefühl, den Kontakt zu einer Person zu verlieren, die vielleicht nicht mehr am Leben ist”, sagt sie. „Am meisten habe ich Angst, noch jemanden aus meiner Familie zu verlieren. Das sind die schlimmsten Verluste. Alles andere verblasst einfach und wird irrelevant. Es ist beängstigend, dass du nicht bei diesem Menschen warst, ihm nicht geholfen, ihn nicht gerettet hast oder etwas nicht vorausgesehen hast. Das ist das Schlimmste.“
Sofija lebt jetzt mit ihrer Mutter und ihrer Patentante mit deren Kindern, einer Katze und einem Hund und setzt ihre Arbeit fort. Ihr zufolge sei es in Riwne normalerweise ruhig, nur die Alarme heulen. Unternehmer nehmen ihre Arbeit wieder auf, Migranten kommen in die Stadt.
„Am ersten Tag verursachten die Geräusche von Explosionen, selbst weit entfernte, tierischen Schrecken und Taubheit“, erinnert sich Sofija. „Es ist mir unter die Haut gegangen und ich habe viel gezittert. Es war sehr, sehr beängstigend, dass das wirklich passiert und es kein Geschichtslehrbuch ist. Doch wir haben uns angepasst. Jetzt lachen wir sogar ab und zu und lassen uns vom Alltag ablenken.“
Sofija erhofft sich, Im Laufe ihres Lebens die Ukraine ihrer Träume zu sehen – europäisch, unabhängig von Russland und Weißrussland, dort in Frieden zu leben und dort Kinder zu bekommen.
Aufnahmedatum 15. März 2022.
Übersetzung: Anna Dziuban