Illustration by Dasha Klochko
„Ein Panzer ist an uns vorbeigefahren. Es war unglaublich beängstigend. Die Schüsse waren schon direkt hinter unserem Haus. Wir hätten gerade von Bekannten abgeholt werden sollen, aber sie waren noch nicht da: Zehn Minuten Wartezeit waren wie ein paar Stunden. Ich habe meinen Koffer fallen lassen, habe meinen Sohn gebeten, sich zu verstecken, und er hat den Koffer hinter sich gezogen und gesagt: „Mama, die Tasche ist dort liegen geblieben! Ich helfe dir!“ Und hat ihn weiter hinter sich gezogen… Den Koffer mussten wir doch liegen lassen. Ich habe völlig vergessen, dass ich dort die Festplatte reingelegt habe, wo all die Fotos und Dokumente waren. Unsere ganze Erinnerung war da“, erzählt Inesa Balabanowa, 25, die mit ihrer Familie vor den russischen Besatzern aus der Stadt Irpin floh.
Vor dem Krieg war Inesa im Mutterschaftsurlaub: „Mein Sohn ist fast drei Jahre alt, ab September könnte er in den Kindergarten gehen, ich wollte mir einen Job suchen“.
Es fällt der jungen Frau schwer, davon zu erzählen, was sie erlebte: „Wenn ich mich daran erinnere, werde ich immer überwältigt. Ich kann nicht genau beschreiben, was ich fühle. In der Tat – nichts. Schmerz, Angst, Groll, Wut – all die zerschmetterten Gefühle, ich versuche, sie irgendwie zusammenzufügen. Sehr schwierig“.
Am 24. Februar gegen vier Uhr morgens rief Inesa ihr Mann von der Arbeit an und sagte: “Inesa, zieh den Kleinen an, zieh dich selbst an, packe das Nötigste . Der Krieg hat begonnen.” Die Frau zitterte vor Schock, sie war verwirrt. “Ich sagte meinem Mann: “Scherzt du?” Sie ging in die Küche, trat ans Fenster und hörte die ersten Schüsse.
„Am Abend gab es „Grade“ (Mehrfachraketenwerfersysteme). Einer nach dem anderen. Mein Herz hat stark geschlagen, aber ich habe mich schnell orientiert. Wir haben die Wohnung zugesperrt und sind direkt unter Explosionsgeräuschen weggelaufen.
Inesa und ihre Familie verbrachten sieben Tage in einem Versteck im Keller einer nahe gelegenen Universität. „Der Mann ist sowohl arbeiten gegangen (er arbeitet im Sicherheitsdienst), als auch auf die Suche nach Lebensmitteln. In den Regalen gab es nur Süßigkeiten und Alkohol. Ab und zu gab es Grütze, aber man konnte es ja nirgendwo zubereiten.”
Mehrmals wollte die Familie flüchten, aber ohne eigenes Auto war es schwierig, rauszukommen. „Am siebten Tag hat jemand von der Arbeit meinen Mann angerufen und gesagt: ‚Rettet euch, wie ihr könnt. Irpin wurde besetzt.“ Der Anruf war ein paar Stunden, bevor das in den Nachrichten gezeigt wurde. So hat er uns das Leben gerettet, weil er uns die Möglichkeit gegeben hat, früher zu fliehen“.
Jetzt sind Inesa und ihr Sohn bei Verwandten in der Region Lwiw. Der Weg dorthin dauerte ein paar Tage mit einem Zwischenstopp in Winnyzja.
Inesa hat Angst um ihren Mann und vor dem Krieg.
„Ich möchte nicht, dass das noch einmal passiert, ich möchte nicht noch einmal eine Deckung suchen. Und außerdem will ich nicht gezwungen werden, ins Ausland zu fliehen. Mein Mann wird die Ukraine nicht verlassen, er wird nicht weglaufen. Und ich will auch hier bleiben.”
Irpin, wo Inesa ihren kleinen Sohn erzogen hatte, wurde erobert und zerstört. Es gibt keine Krankenhäuser, Wohnhäuser, Kindergärten. Auf den Straßen liegen die Leichen getöteter Menschen, die vor den Besatzern fliehen wollten. „Ich wache jeden Tag mit Dankbarkeit gegenüber Gott auf. Hier ist es still. Ich bin nicht auf der Straße, nicht im Keller. Wenn noch mein Mann in der Nähe wäre, wäre es noch einfacher. Ich versuche, mich unter Kontrolle zu haben. Aber ich habe noch nicht alles begriffen, was passiert ist. Diese Erfahrung habe ich noch nicht verarbeitet“.