Illustrated by Tanya Guschina
“Gestern habe ich zum ersten Mal seit 12 Tagen meine Strumpfhose ausgezogen. Ich dachte mir, ich werde diese zusammen mit meinem Fleisch abreißen, genauso wie in den letzten Tagen musste ich viele andere Dinge aus meinem Herz entfernen. Zum Glück ist mein Körper derart angespannt, dass nichts an der Haut klebt. Sogar das Blut klebt nicht. Wir haben 10 Tage in der Belagerung verbracht. Zwei Kilometer von Makariw (eine Siedlung städtischen Typs in der Oblast Kyjiw, A.d.Ü.) entfernt. In einer der heißesten Hotspots der Ukraine. Ohne Strom-, Wärme-, Wasserversorgung, ohne Netzverbindung. Fast ohne Nachrichten. Gestern hatten wir es schon satt und sind über das Feld gerade unter den Beschüssen der Mehrfachracketwerfsysteme („Grad“ auf Ukrainisch) rausgefahren“, schrieb die 36-Jährige Oksana Tunyk, nachdem sie samt ihrer Familie aus der Okkupation in der Oblast Kyjiw rausgekommen waren.
Vor dem Krieg arbeitete Oksana Tunyk als Creative Producer, sie entwickelte Drehbücher für das TV und Kino. Als der Krieg begann, verließ Oksana mit ihrer Familie die Stadt Butscha. Sie fuhren zur Familie ihres Mannes in den Landkreis Makariw, da sie der Überzeugung waren, dort sei es absolut sicher.
“Später wurden alle Ausfahrten aus der Stadt blockiert. Die russischen Truppen sind einmarschiert, und die Beschüsse haben begonnen. Im Versteck haben wir gehört, wie sich die Kolonnen zwei Stunden lang fortbewegt haben. Dies hat sich dreimal wiederholt. Während der Belagerung habe ich erfahren, dass wenn man einfach einen Blick auf die Kolonne der Panzer wirft, einer der Soldaten sich umdrehen und dich erschießen wird. Dies passierte nämlich unseren drei Nachbarn aus unserer Straße.
Die ersten Schüsse fingen schon um 05:00 Uhr morgens an, deswegen standen sie früh auf. Oksana erzählt, dass es sehr kalt war, aber den Kamin feuerten sie erst morgens an, damit es in der Nacht dunkel bleibt, um keine Aufmerksamkeit auf sich zieht.
“Wir mussten das Wasser warm machen, das Geschirr spülen, das Essen kochen, das Kind zumindest alle zwei-drei Tage waschen. Wenn die Schüsse nicht zu nah zu uns waren, versuchten wir unseren Sohn abzulenken. Wir haben viel vorgelesen, viel gespielt. Wir haben ein Radio gefunden und haben versucht, Nachrichten zu hören. Die meiste Zeit verbrachten wir aber im Keller: Unser 3-Jähriger Sohn ist zwischen den Erwachsenen im Kreis gelaufen, die Erwachsenen ihrerseits haben “Schranken” gebildet, und der Kleine passierte diese Hindernisse mit der Parole „Ruhm der Ukraine“ (Slawa Ukraini auf Ukrainisch). Einige Minuten hat er etwas auf dem Tablet gemalt. Währenddessen haben wir uns die Kerze angeschaut. Wir haben die Schüsse gezählt.
Derzeit hält sich Oksana mit ihrer Familie in der Oblast Chmelnyzkyi auf. Sie ist erschöpft. Sie sagt, sie habe keine Angst ihre Arbeit oder ihr Haus zu verlieren, aber sie habe Angst, dass sie keine Möglichkeit haben werde, das Ganze wieder aufzubauen.
„Ich träume davon, so schnell wie möglich nach Hause zurückzukehren, auch wenn dort nur das Fundament heil geblieben ist. Die ganze Familie zusammen am Tisch zu versammeln und all diejenigen zu umarmen, die ich momentan nicht umarmen kann.”