Illustrated by Tanya Guschina
“Ich war am Lenkrad. Der russische Soldat befahl mir grob: ”Aussteigen!” Ich antwortete bissig: ”Kann nicht!” und zeigte mit der Hand auf den Rollstuhl im Auto”, erinnert sich Uljana Ptscholkina, wie sie mit ihrem Mann und einigen Nachbarn das umkämpfte Butscha verließen. “Leichen und Leichenteile lagen in der Stadt verstreut, in den Wagen waren erschossene Menschen. Sie alle waren Zivilisten, die bloß versuchten, rauszukommen und an einen sicheren Ort zu gelangen. Viele Leichen wurden von Bewohnern eingesammelt und in einem Gemeinschaftsgrab neben der Kirche begraben, aber viele blieben noch auf den Straßen von Butscha liegen. Wir hatten einfach Glück, denn wir fuhren in einer langen Kolonne und darum blieben wir am Leben. Einfach Glück gehabt.”
Die 38-jährige Uljana Ptscholkina ist eine öffentliche Persönlichkeit, TV-Moderatorin, Weltmeisterin in Para-Karate, Leiterin und Mitglied des Vorstandes des Vereines ”Gruppe der aktiven Rehabilitation”, welche die Leute unterstützt, die ein Wirbelsäulentrauma haben und daher im Rollstuhl sitzen. Vor 17 Jahren erlitt sie eine schwere spinale Verletzung und seither ist sie auf den Rollstuhl angewiesen. Auch ihr Mann Witalij hat eine Behinderung.
“Als man vom Krieg in seinem vollen Ausmaß zu sprechen begann, schrieb ich an alle beteiligten Personen und Behörden und stellte eine Frage: Was werden die behinderten Menschen tun? Aber niemand wusste eine Antwort darauf. Ich erinnere mich sehr gut an den Kriegsbeginn 2014 in Donbass: Menschen mit beeinträchtigtem Gehör starben, weil sie den Alarm nicht hörten, weil die Sirene allein nicht reichte, sondern auch von Lichtsignalen hätte begleitet werden sollen. Sie starben einfach in ihren Wohnungen liegend. Ich erinnere mich auch daran, wie die Leute in Rollstühlen nicht wussten, wo sie sich verstecken sollten, und wie die geistig beeinträchtigten Personen nicht in die Schutzkeller gelassen worden waren. Nach acht Jahren Krieg haben wir noch immer keinen ausgereiften Plan zur Evakuierung behinderter Personen, darum waren alle verwirrt…”
Uljana und Witalij sind im Jahre 2015 in eine eigene Wohnung in Butscha umgezogen. Sie wohnten im Stadtzentrum, in einer Wohnung im Erdgeschoss, die sie maximal barrierefrei und bequem eingerichtet hatten. Am 24. Februar wurde das Ehepaar durch Explosionen geweckt – die Russen bombardierten den nur einige Kilometer entfernten Flughafen Hostomel. Seit dieser Zeit folgten dort Bombardierungen, Beschuss und Schusswechsel ununterbrochen aufeinander.
“Ich war gerade auf dem Balkon, als die ersten russischen Hubschrauber vorbeiflogen. Die Angreifer flogen über meinem Kopf”, erinnert sich Uljana an den ersten Tag der umfassenden russischen Invasion in der Ukraine.
Zusammen mit ihrem Mann entschied sie sich, zu Hause zu bleiben. Sie versteckten sich im Badezimmer, weil die Treppe zum Keller sehr eng und kaputt war, mit den Rollstühlen konnte man es nicht nach unten in den Keller schaffen.”In der ersten Nacht schliefen wir im Badezimmer sitzend – für eine behinderte Person ist das einfach die Hölle. Danach beschlossen wir, im Bett zu schlafen: Wenn uns etwas treffen soll, dann soll es so sein. Wir schliefen vollständig angekleidet. Wir wachten früh auf, deshalb schlief ich noch am Nachmittag im Badezimmer, mein Kopfkissen auf das Waschbecken gelegt”, so Uljana. “Unser Haus liegt direkt neben der Schnellstraße nach Warschau. Am 21. Februar wurde es von einem russischen Panzer getroffen: Die Nachbarwohnung im vierten Stock wurde beschossen, sie wurde vollständig zerstört und brannte aus. Unser Balkon ist nicht verglast, daher konnten wir die Schießerei gut hören. Wir sahen auch die in die Wände einschlagenden Kugeln. Vom Balkon hörten wir das Stöhnen eines Verletzten”.
Schon in den ersten Kriegstagen wurden im Haus Gas und Heizung abgestellt, und gleich danach gab es keinen Strom mehr. Uljana erzählt, dass sie und ihr Mann nur dank der Hilfe und Fürsorge ihrer Nachbarn am Leben geblieben sind. ”Wir hielten alle zusammen und das rettete uns. Wir beide konnten weder Wasser holen, noch Lebensmittel im zerstörten Laden besorgen, noch tanken. Wir wären einfach verhungert”, erzählt sie weiter.
Anfang März schafften es Uljana und Witalij, die Stadt zu verlassen. “Die Evakuierung wurde angekündigt, jedoch ließen die Russen die Evakuierungsbusse nicht in die Stadt. Auf einmal schrie jemand aus unserer Kolonne: ”Jetzt fahren wir los!” Wie schafften wir es vorbeizufahren? Hunderte Autos fuhren los – ganz unerwartet für die russischen Soldaten. Die einen filzten sie, die anderen nicht, denn die Kolonne war riesengroß”, so Uljana.
Das Ehepaar musste sich trennen: Witalij stieg in einen kleinen Bus zusammen mit anderen Nachbarn ein, und Uljana nahm ins Auto eine junge Frau mit einem Hund und einen Nachbarn mit.
“Überall waren Russen in der Stadt, überall hörte man Schießereien, Maschinengewehr-Salven, Explosionen. Wir bildeten eine Kolonne, um aus unserem Hof loszufahren. Und genau in diesem Moment schoss ein schweres russisches Gerät, entweder ein Panzer, oder ein SPW, ich weiß nicht so genau, auf das fünfstöckige Haus uns gegenüber. Die Russen fuhren vorbei und zielten auf uns. Ich saß mit erhobenen Händen im Auto. Obwohl ich nicht besonders gläubig bin, begann ich während dieses Krieges zu beten. Ich fürchtete um die Menschen, die daneben im Auto saßen, um meinen Mann. Sie zielten auf uns, doch zum Glück, schossen sie nicht”, erinnert sich Uljana. “An den zahlreichen Straßensperren durchsuchten die Russen unsere Autos: Sie suchten nach Videokameras, sahen im Telefon Videos und Fotos an – ich habe alles vor unserer Abreise gelöscht. Wir fuhren aus Butscha raus, als es dunkel wurde, und fuhren weiter nach Fastiw. Wir fuhren durch Dörfer, Dorfränder und Minenfelder. Mein Körper war so verkrampft, dass ich mich erst am dritten Tag unseres Aufenthalts in Lwiw endlich richtig entspannen konnte.”
”Die behinderten Menschen sind während des Krieges in noch größerer Gefahr, weil sie oft keine Möglichkeit haben, in den Schutzkeller zu gehen, sich Nahrung zu besorgen oder sich bei erster Möglichkeit in Sicherheit zu bringen”, so Uljana. ”Ich bitte um Entschuldigung, aber es ist auch unmöglich, unterwegs auf die Toilette zu gehen, zum Beispiel, auf dem Feld oder unter der Brücke, in der Wohnung ist das auch ein großes Problem, weil es unmöglich ist, mit dem Rollstuhl auf die Toilette zu fahren.”
”Es war sehr schwierig, sich von unserem Zuhause zu verabschieden. Aber man kann das alles später wieder aufbauen. Das Wichtigste ist jetzt am Leben und psychisch stabil zu bleiben. Alles andere kann später, nach unserem Sieg gemacht werden.”
Eintragsdatum: 17. März 2022
Übersetzung: Oxana Primak