Illustrated by Дар’я Бороденко
„Eine Frau ist laufend zu unserem Schutzkeller gekommen und hat um Hilfe gebeten – ihr Mann war auf etwas getreten und hatte beide Beine verloren. Switlana, eine Frau aus unserem Keller, hat dabei geholfen, den Mann ins Auto zu setzen und das Paar ins Krankenhaus zu bringen. Dann ist sie zurückgekehrt, hat das Auto beim Hauseingang geparkt und ist zurück in den Keller gekommen. All dies unter ständigem Beschuss, während jede Sekunde das eigene Leben riskiert wurde.“
Chrystyna Dscholos gehörte zusammen mit ihrem Mann und ihrem Sohn zu den ersten, die aus Mariupol entkommen konnten. Die Familie saß 16 Tage fast ununterbrochen im Schutzraum. Jeder Gang nach draußen hätte das Leben kosten können.
„Am 15. März ist es meiner Familie und mir gelungen, Mariupol zu verlassen. Es gab keinen grünen Korridor, keine organisierte Evakuierung. Wir haben es auf eigene Gefahr gemacht. Zu Beginn des Krieges wurde am Stadtrand aktiv geschossen, im Stadtzentrum war es auch fürchterlich, aber wir konnten trotzdem irgendwie leben. Damals sind nur wenige Leute weggefahren, die örtlichen Behörden haben über so etwas nicht informiert.“
Es gab kaum Schutzräume in der Stadt: Meistens waren es einfache Keller von Gebäuden. An Kellern mit Belüftung fehlte es katastrophal.
„Wir haben uns im Gymnasium versteckt, auf welches mein Sohn ging, im dortigen Untergeschoss, das kalt und feucht war. Zuerst haben wir nur dort übernachtet und direkt auf dem Boden geschlafen. Am Nachmittag sind wir unter Beschuss nach Hause zurückgekehrt, wo es noch Strom und Gas gab, so dass man etwas kochen konnte. Die Leute aus den Randbezirken sind auch ins Stadtzentrum gezogen. Ich habe Suppe für sie gekocht und habe versucht, denjenigen, die nichts mehr hatten, wenigstens ein bisschen zu helfen. Die Überlebensfrage war aber noch nicht da, alle haben schnell und tatkräftig unserem Militär und einander geholfen.“
Die Familie geriet unter Beschuss, als sie eines Tages wieder nach Hause zurückkehrte. „Die Fenster in unserem Haus waren zerbrochen, im Hof war eine Rakete explodiert. Als ich den Hauseingang erreicht habe, habe ich gehört, dass eine weitere Rakete angeflogen kam. Ich habe meinen Sohn auf den Boden geworfen, direkt auf die Glasscherben, habe ihn mit meinem Körper bedeckt. Wir sind unversehrt geblieben, gingen aber nicht mehr nach Hause. Seit diesem Tag gab es auch keinen Strom mehr.“
Chrystyna versuchte, Handyempfang zu bekommen und ging deshalb einmal etwas weiter in die Stadt. Die Nachbarn im Keller verteilten Zettel mit Telefonnummern und baten darum, Nachrichten an Verwandte weiterzugeben. „In der Nähe des Ladens „1000 dribnyts“ (dt. „1000 Kleinigkeiten“) — diesen Laden kennen alle in Mariupol — sind viele Menschen und Autos gestanden. Plötzlich hat ein stärkerer Beschuss begonnen: Viele Granaten haben die Menschenmenge getroffen. Das war das erste Mal, dass ich eine Leiche auf der Straße liegen sah.“
In den Höfen wurde Lagerfeuer entfacht, um Suppe zu kochen oder Wasser zu erhitzen. Von Zeit zu Zeit flogen Granaten. Bei einem solchen Angriff wurde einem Mann ein Bein abgerissen. Er lag da, blutend, niemand konnte ihn wegbringen. Eine weitere Granate zerstörte einen Teil der Fenster im Schutzraum, in dem sich Chrystynas Familie befand. Eine Frau wurde am Oberschenkel verletzt, sie lag die ganze Nacht im Erdgeschoss und flehte um Gift, um die höllischen Schmerzen nicht zu spüren.
„Die Leute haben Massengräber ausgegraben, um die Leichen zu beerdigen. Diejenigen, die eines natürlichen Todes gestorben sind, sollten auf die Balkone gebracht werden — so war die Empfehlung. Niemand konnte die Leichen weg bringen. Wenn ein Kind krank war, wusste niemand, was mit dem Kind passieren wird. Alle waren krank, weil es sehr kalt war, auf dem Boden zu schlafen. In unserem Schutzraum hatte ein einjähriges Mädchen sehr hohes Fieber, 40 Grad. Alle haben nach wenigstens einem Medikament für sie gesucht, und sie konnten keine Antibiotika finden.“
Ob das Mädchen überlebt hat, ist nicht bekannt.
Die Familie beschloss zu fliehen. Unter Beschuss erreichten sie ihre Wohnung, schnappten sich ihre Katze und einen Koffer, der in der Hoffnung auf einen grünen Korridor eingepackt worden war. Sie beluden ihr Auto und klebten die Aufschrift „Kinder“ auf das Auto. „Du weißt nicht, ob du ankommst oder nicht. Menschen in der Nähe haben geschrien. Chaos und Panik überall, es war schwer zu beschreiben und zu verstehen, was los war.“
Die Autos bildeten eine Kolonne, um sich zusammenzuhalten. Hinter dem Fenster — kaputte Kabel, zerstörte Häuser, oben — feindliche Flugzeuge, ständiger Beschuss. An der Stadtausfahrt — Staus und russische Kontrollpunkte. Die Besatzer kontrollierten die Autos: „Meinem Mann haben sie sogar die Finger kontrollieren lassen: Ich glaube, sie haben geschaut, ob er eine Waffe abgefeuert hatte. Es war unglaublich gruselig, aber wir haben die Explosionen nicht mehr gehört.“
Die Sperrstunde traf die Familie mitten auf einem Feld in einer Grauzone: zwischen den Besatzern und den ukrainischen Truppen. Umgeben von mehreren anderen Autos blieben sie dort für die Nacht. Es war kalt, aber sie sparten Sprit und wärmten sich mit Decken. Um 5:30 Uhr morgens machten sie sich auf den Weg, und fanden schließlich einen ukrainischen Kontrollpunkt.
„Tausende Menschen sind dort [in Mariupol] geblieben, ich weiß nicht, wie man ihnen helfen soll. Meine Mutter und drei Brüder sind auch noch immer in Mariupol und verstecken sich vor dem Beschuss im Keller. Niemand kann dorthin gehen und sie abholen.“
Chrystyna träumt davon, die Stimmen ihrer Verwandten zu hören, und dass der Beschuss vorbei ist. „Wir werden uns nirgendwo mehr zu Hause fühlen können. All das Erlebte, geliebte Kleinigkeiten und Familie sind zu Hause geblieben. Mein Zuhause — Mariupol — sieht jetzt wie eine feurige Hölle aus, durchdrungen von Angst und Hoffnungslosigkeit. Ein Loch, das alles verbrannt hat, was uns wichtig war.“
Aufgezeichnet am 17. März 2022.
Übersetzung: Kateryna Churikova