Krieg. Geschichten aus der Ukraine

Ukrainer erzählen, wie sie im Krieg leben

“Verletzte Oma – ist sie denn ein Nazi, eine Bandera-Anhängerin? So geht es nicht”, Olexij Boschko, 25 Jahre alt, Charkiw

von | 16 März 2022 | Kharkiv

Illustrated by Galochka Ch

Am ersten Abend wurde eine Frau eingeliefert, die durch eine Splitterverletzung ein Auge verloren hatte.Sie war bei Bewusstsein, hat mit uns gesprochen, hatte Schmerzen”, erinnert sich Olexij Boschko an seine während der Kriegszeit erste Dienstschicht auf der chirurgischen Station des Regionalkrankenhauses in Charkiw. Dabei lernte der 25-jährige Doktorand der pathologischen Physiologie aufgrund des Krieges, den Opfern von Explosionen und Abstürzen Hilfe zu leisten. 

Das medizinische Personal lebt mehr oder weniger im Krankenhaus. In den Fluren zu schlafen ist sicherer, als unter Beschuss nach Hause zu fahren. Eigentlich ist der Korridor

zu einem der meistbesuchten Orte geworden: Bei einem Luftangriff wird er von Ärzten und Patienten als Schutzraum genutzt. Es ist leider unmöglich, alle Menschen in einem neunstöckigen Gebäude in den Keller zu bringen.

Ich freundete mich mit Olexij bereits in der Schulzeit an, im Jahre 2013, beim Turnier junger Historiker. Etwas später, im stürmischen Jahr 2014 trafen wir uns manchmal auf einen Kaffee und sprachen stundenlang über die Geschichte des zweiten Weltkrieges und darüber, wie sehr Handlungen und Propaganda des damaligen Russland dem damaligen Nazideutschland ähnelten. Jetzt hat Olexij keine Zeit für Diskussionen.

Ein Teil des medizinischen Personals verließ Charkiw bei Ausbruch des Krieges.”Es gibt  Leute, die in ihrem erzwungenen Exil helfen. Aber ich verstehe auch, dass ich hier viel mehr Gutes tun kann”, erklärt Olexij seinen Standpunkt. Im Krankenhaus führt er nun Routineuntersuchungen durch, leistеt erste Hilfe, bietet nach Möglichkeit kostenlose Online-Beratungen an und sortiert die Medikamente, die die Freiwilligen mitbringen.

Russische Truppen beschießen Charkiv ununterbrochen. Alles hängt jetzt von der koordinierten Arbeit von Freiwilligen und Ärzten ab.

Wir erhalten ständig humanitäre Hilfe, sowohl aus anderen Städten der Ukraine, als auch aus dem Ausland!”, sagt Olexij. “Es kommen nicht nur Medikamente und Hilfsgüter, sondern auch Lebensmittel für Patienten und Personal. Nicht immer ist es eine koordinierte Hilfe. Manchmal ist klar: Ein Deutscher, Pole oder Tscheche ging in eine Apotheke, kaufte alles, was er konnte, auf und schickte es uns. Ohne die Freiwilligen wäre es sehr schlimm”.

Ein Teil des Essens wird im Krankenhaus gekocht, etwa die Hälfte stammt aus den Küchen der örtlichen Restaurants und Cafes.

Der Arzt hofft, dass er nach dem Krieg mit den Menschen, die ihm am nächsten stehen, Schulter an Schulter durch sein geliebtes Charkiw bummeln wird. Auch will er einen Dankesbrief an alle Organisationen, Firmen, Freiwilligen und das Militär schreiben und mit seiner Familie in die Pizzeria “Ti Amo” im Schewtschenko-Garten gehen, “wenn sie natürlich noch nicht zerstört ist”.

Jetzt aber kümmert er sich um die Verwundeten. Er sagt, dass zufällige Verletzungen von Zivilisten ihn am meisten schockieren würden: ”Die Oma, die mit einer Verletzung zu uns gebracht wurde – ist sie denn ein Nazi, eine Banderiwka? [A. d. Ü.: als “Banderiwka” bezeichnet man eine Anhängerin des ukrainischen Nationalisten Stepan Bandera]. Vielleicht sei sie ein wichtiger militärischer Zielpunkt? Solche Patienten werden für den Rest ihres Lebens behindert sein. So etwas sollte nicht passieren”.

Er spricht über die Wut und “den heiligen Krieg für die Unabhängigkeit”, und ich denke schon daran, ihn nach dem Sieg zu einem Gespräch über den zweiten Weltkrieg einzuladen. Ich werde mir auch seine Witze anhören. Denn: ”Schwarzer Humor hat sich für immer in den Fluren des Krankenhauses festgesetzt”, so sagt er.

Mehr Geschichten