Ein paar Tage vor dem Krieg bezahlte 27-jährige Li Biletska aus Cherson zwei Weiterbildungskurse im Ausland — sie wollte Blogging und Fotografie lernen. Die Kurse laufen gerade, aber ohne sie, es ist jetzt keine Zeit für Weiterbildung. Sie hält sich gerade in Cherson auf — der Stadt, die vorübergehend von den Russen okkupiert ist. Okkupiert bereits seit sieben Tagen. Jeden Tag nimmt Li an pro-ukrainischen Demonstrationen teil, denn sie kann nicht anders. Ihre 4-jährige Tochter lässt sie zu Hause mit dem Mann. Oder er geht hin und Li bleibt zu Hause mit dem Kind. Sie gehen so vor, damit nur einer von ihnen das Risiko eingeht, sodass ihre Tochter nicht ohne Unterstützung bleibt, falls etwas passiert.
“Die erste Demonstration hat mit den Schüssen in die Luft begonnen. Es hat sich herausgestellt, dass die Russen einen Demonstranten festnehmen wollten, er wurde aber von der ganzen Menschenmenge verteidigt. Ich glaube, dadurch unterscheiden wir uns von Russland — bei uns steht man mit Leib und Seele für den anderen ein und hält sich zusammen.”
In den ersten Kriegstagen flog ein feindlicher Jagdbomber über Lis Haus vorbei. “Ich und mein Mann haben ein lautes Geräusch gehört und haben gedacht, das sei ein Beschuss, und instinktiv sind wir auf unsere Tochter gesprungen, damit es eine Chance gäbe, sie irgendwie zu schützen. Es war grauenvoll”, erinnert sie sich.
Das Haus, in dem Li mit ihrer Familie wohnt, befindet sich angeblich nicht in der unmittelbaren Kampfzone — die Kampfhandlungen finden hauptsächlich neben der Brücke und an der Stadteinfahrt statt. Dennoch erschossen die Invasoren gleich am ersten Tag auf den Straßen einige Dutzend friedliche Menschen. Wo das nächste Mal geschossen wird, weiß niemand.
“Im Schlafbezirk von Cherson hat ein russischer Panzer einfach so, zum Spaß, auf ein Wohnhaus geschossen. Es ist erschreckend, denn man kann nicht für seine Sicherheit einstehen. Man kann einfach so getötet werden, und da gibt es keinerlei Logik”, erzählt Li.
Medikamente und Lebensmittel werden in die Stadt auch nicht durchgelassen, also lebt Cherson nur von Vorräten. Einige Läden sind geöffnet, aber man muss stundenlang Schlange stehen und die Regale sind fast leer.
“Man stellt sich in der Schlange an, erst danach fragt man, was zu kaufen ist. Genauso wie in der UdSSR. Leute haben Getreide, Nudeln und das einfachste Essen im Vorrat, aber niemand weiß, wie lange man durchhalten muss. Wir ernähren uns sparsam, denn niemand weiß, wann die Lebensmittel in Cherson ausgehen und wie lange das alles noch dauert”, sagt Li.
Lokale Einwohner wollen nicht nach Russland, deshalb veranstalten sie massenhaft pro-ukrainische Demonstrationen. Li meint, für Cherson ist das eine beispiellose Einigkeit in der Unterstützung der Ukraine.
“2014 trafen sich höchstens 100 Menschen auf dem Maidan. Und gestern nahmen an der pro-ukrainischen Kundgebung so viele Chersoner teil, dass man keinen Überblick hatte. Alle sind trotz Lebensgefahr rausgegangen, um zu sagen, dass sie Russland nicht brauchen. Niemand will die sogenannte “Befreiung”, die man uns aufzuzwingen versucht.”
Es ist jetzt unmöglich, Cherson zu verlassen — russische Truppen lassen friedliche Menschen nicht raus. Li sah in einem Video, wie ein Chersoner versuchte, seine Familie zu evakuieren, aber sein Auto wurde am Kontrollpunkt beschossen. Es besteht nur eine vage Hoffnung auf einen “grünen Korridor”, aber das ist auch riskant — in den anderen besetzten Städten haben russische Truppen ihr Versprechen nicht eingehalten und haben angefangen, auf friedliche Menschen zu schießen.
Li hat Angst. Die Stadt zu verlassen ist wie ein Glücksspiel. Wenn man kein Glück hat, ist der Preis viel zu hoch.