Krieg. Geschichten aus der Ukraine

Ukrainer erzählen, wie sie im Krieg leben

„Ich habe geweint, weil ich ein Land, in dem es so gute Menschen sind, nicht verlassen wollte”, Marianna, 24, Lwiw

von | 5 März 2022 | Krieg. Geschichten aus der Ukraine, Lviv

 

Marianna ist 24. Am Morgen, den 24. Februar, wachte sie in ihrer Wohnung in Lwiw auf und wollte den 6-monatigen Sohn Taras stillen. Von Nachrichten erfuhr sie, dass Russland eine groß angelegte Invasion begonnen hatte. „Ich vergesse nie diesen Augenblick: ich stille meinen Sohn und weine: es ist mir klar, dass der Krieg uns erreicht hat“, – sagt die junge Frau. 

Als sie aber mit ihrem Kind spazieren ging, begriff sie, wie ernst die Situation war: im Stadtzentrum von Lwiw gab es nur ein Café, wo man Kaffee bestellen konnte – die anderen waren geschlossen. 

Vor kurzem ließ sie für Taras einen Reisepass ausstellen – so einfach für die Zukunft, also die Entscheidung für die Ausreise schien klar zu sein. Doch die Männer im wehrfähigen Alter durften nicht nach Ausland fahren, und Marianna traf die Entscheidung, nicht auszureisen. Hätte sie kein Kleinkind, würde sie auch selbst kämpfen.

Sie änderte ihre Meinung nachdem sie sich zum ersten Mal im alten staubigen Luftschutzbunker verstecken sollte.

„Mir wurde klar, dass meine Priorität mein Sohn und nicht mein Wunsch zu kämpfen ist. Weil jetzt ein anderes Leben von mir abhängt“. Darum machte sich die Familie auf den Weg. Der Grenzübertritt war sehr schwierig. Das Auto blieb in einem Stau vor der polnischen Grenze stecken. 

Dann wickelte Marianna ihren Sohn in alles, was sie hatte, versteckte ihn unter ihrer Jacke und ging mit ihrer Familie 22 Kilometer in der Kälte zu Fuß. Die Menschen in den Häusern auf beiden Seiten der Straße richteten Heizstationen ein, richteten heißen Tee und Speisen.

„Ich habe geweint, weil ich ein Land, in dem es so gute Menschen sind, nicht verlassen wollte“, erinnert sich Marianna.

Einen Kilometer vor der Grenze verabschiedete sie sich von ihrem Mann: von hier aus fuhr ein Bus für Mütter mit Kindern, aber es war nicht einfach, dorthin zu gelangen. Manche standen einige Tage in der Schlange. Marianna stand 5 Stunden da, als jemand fragte, ob zwei oder drei Monate alte Kinder in der Schlange seien. Marianna rannte. Ein Fremder brachte ihre Sachen: einen Kinderautositz, einige Sachen ihres Sohnes, Geld und Dokumente.

„Ich habe noch ein paar Fotos gemacht, weil ich nicht wusste, ob ich meinen Mann und meine Eltern wiedersehen würde. Ich war sehr verzweifelt, aber ich habe einfach versucht, mich festzuhalten und nicht zu weinen“.

Auf polnischer Seite bekam die Frau ein Zimmer, damit sie das Kind stillen und aufwärmen konnte. Man fragte, wo ihre Sachen seien, aber sie wusste nicht, wie sie erklären sollte, dass alles auf dem Weg zur Grenze am Straßenrand liegt.

„Meine Bekannten haben mich von der Grenze abgeholt. Zuerst scherzte ich im Auto und war aktiv. Und dann fing ich einfach an zu zittern, wie bei Epilepsie. Ich habe plötzlich gespürt, wie kalt mir ist, wie schlecht es mir geht… Ich habe mir das vorher nicht erlaubt“.

Marianne sei jetzt in Sicherheit. Polen leiste Rechtsbeistand für Flüchtlinge, und die junge Frau könne möglicherweise arbeiten, wenn der Krieg weitergeht. Aber sie träume vom Sieg und der wirtschaftlichen Entwicklung der Ukraine: sie wolle unbedingt nach Hause zurückkehren.

„Meine größte Angst ist der Verlust meiner Familie, die in der Ukraine geblieben ist. Denn dieser Krieg hat uns gelehrt, dass Menschenleben das Wertvollste ist, was wir haben, und alles Materielle keine Bedeutung hat“.

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