Krieg. Geschichten aus der Ukraine

Ukrainer erzählen, wie sie im Krieg leben

“Ich sehe meinen Sohn an und habe Angst, dass wir nicht sehen werden, wie er aufwächst”, Oleksandra, 23, Kyiv

von | 7 März 2022 | Krieg. Geschichten aus der Ukraine, Krolevets

 

Oleksandra Ovsiyenko — Mama im Mutterschaftsurlaub — ist 23 Jahre alt. Die letzten acht Jahre lebte sie in Kyiv, vor einigen Wochen hat sie die Augenbrauenkurse abgeschlossen. Oleksandra wollte mit eigenem Geschäft anfangen. “Am 24. Februar hatte ich vor, den Tisch bei  IKEA zu kaufen, und nicht in einem Luftschutzraum den Zuflucht zu suchen”..

Die Familie von Oleksandra hatte noch vor dem Krieg den Plan “B”: Kyiv zu verlassen. „Wir haben verstanden, dass es gefährlich wäre, in der Hauptstadt zu bleiben, wenn es losgeht. Am 24. Februar machten sie sich auf den Weg in die Westukraine: Sie packten schnell ihre Sachen und sprangen in ein Auto. Aber in drei Stunden konnten sie nicht einmal Kyiv verlassen (Die Stauen waren riesig groß). Es war nicht genug Kraftstoff da, also mussten wir umkehren und zurück zur Wohnung gehen”.

Am nächsten Tag gelang es Olexandra und ihrer Familie, die Hauptstadt zu verlassen, allerdings sie fuhren nicht nach Westen. „Als wir im Luftschutzkeller saßen, riefen uns unsere Verwandten aus der Region Sumy an. Da waren unsere Familienangehörige: der Vater meines Mannes, seine Schwester mit ihrer Familie, drei Großmütter und der Großvater. Man redete von gesprengten Brücken, doch eine schien unbeschädigt zu bleiben. Wir entschieden uns, zu ihnen zu fahren. Letztendlich sahen wir damals keine anderen Möglichkeiten: Die Explosionen waren unerträglich, und wir wagten es nicht, den „Marsch“ durch ganz Kyiv nach Westen zu wiederholen”. 

Wir nahmen Babynahrung, Spielzeuge, einen Erste-Hilfe-Kasten und je einen Pullover für jeden mit. Die junge Frau sagt, sie habe die ganze Zeit gezittert, ihr kleiner Sohn sei auch aufgeregt gewesen.

“Ich bitte meinen Mann immer, langsamer zu fahren, aber an diesem Tag sagte ich immer wieder: “Bogdan, schneller!” Es war sehr beängstigend. Leere endlose Straßen und ständige Angst, das wir jetzt beschossen werden. Und dann stößt man auf eine riesige Kolonne der Technik und kann nicht verstehen, ob es die Fremden oder unsere sind… » 

Das Paar muss von Verwandten zu Verwandten “wandern”. „Es ist sehr schwierig, eine Unterkunft zu finden, einen Ort, an dem das Kind sicher ist. Es ist jetzt ruhig in unserer Stadt, doch der Krieg ist zu nah“. Trotzdem ist Oleksandra froh, dass sie nicht in Kyiv geblieben ist.   

Die junge Frau sagt, dass sie Angst, Unruhe, Wut empfindet. Ihr Sohn ist sehr nervös, kann nur bei seinen Eltern bleiben. „Unser Tag ist ein Murmeltiertag. Es gibt dort Angst, es gibt hier Angst, ständige Nachrichten. Wir lauschen immer, ob es keine Alarmsirene gibt. Wir bleiben im Kontakt mit Verwandten und jedes “Wie geht es dir?” empfangen wir echt als „Ich liebe dich. Wir hoffen, Sie wieder zu sehen”.   

Oleksandra gibt sich Mühe, mit dem Sohn mehr zu spielen, zu lesen, sich mit Haushalt abzulenken. Sie sagt, alltägliche Aktivitäten helfen, nicht verrückt zu werden.  

Am meisten macht sich Oleksandra Sorgen wegen ihrer Familie: “Ich sehe meinen Sohn an und habe Angst, dass wir nicht sehen werden, wie er aufwächst. Oder noch schlimmer, er wird keine Zeit haben, erwachsen zu werden. Manchmal scheint es, als wären die Kräfte weg. Du liest etwas in einem Netzwerk  und da siehst Fotos von Kindern aus Krankenhäusern – es ist so schmerzhaft und beängstigend”. 

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