Krieg. Geschichten aus der Ukraine

Ukrainer erzählen, wie sie im Krieg leben

“Jeder nächste Laut kann eine Kugel oder eine Rakete sein, die dich trifft”, Roman Sakrewskyj, 35, Tschernihiw

von | 15 März 2022 | Chernihiv

Tschernihiw wird jeden Tag bombardiert. Teilweise gibt es kein warmes Wasser, keinen Strom. Es gibt völlig zerstörte Landhaussiedlungen. Es gibt Menschen, die im einfachen Keller des Privathauses bereits zwei Bombardierungen erlebt haben. Die Besatzer zerstören Schulen und Kindergärten, zielen auf historische Gebäude. “Gestern heulten die Sirenen den ganzen Tag ununterbrochen und wir waren kaum draußen. Wer geblieben ist, geht zur Arbeit, aber die Stadt ist jetzt halbleer. Man steht Schlange, um Brot und Medikamente zu kaufen”, erzählt 35-jähriger Roman Sakrewskyj, TV-Kameramann bei UA:Suspilne Tschernihiw.

Roman, seine Ehefrau Julia, die fünfmonatige Tochter Wasylyna und der Hund Archie wohnen im Keller des Stadtkrankenhauses. Mit ihnen sind noch 50 Menschen und zwei Katzen dort.

Roman wacht gegen sechs Uhr auf: Da endet die Sperrstunde und er geht neben dem Luftschutzbunker mit Archie Gassi. Wenn er irgendwelche Sachen braucht, geht er sie nach Hause holen. All die restliche Zeit verbringt er mit seiner Familie.

“Meine Frau hat Angst, auf die Straße zu gehen. Wir kochen zusammen, räumen auf. Ich bringe den Müll raus, fülle den Wasservorrat auf, richte Plätze für Neuangekommene ein.”

Roman fotografiert oft andere Menschen, das Leben in Tschernihiw und nimmt Videos für den zukünftigen Dokumentarfilm auf. “Regelmäßig lassen mich Explosionen zusammenzucken, wenn ich draußen eine Zigarettenpause mache. Denn es ist immer unerwartet. Ehrlich gesagt bemühe ich mich darum, zu überleben und nicht wegen der Gedanken und Umständen, mit denen die Kriegszeit erfüllt ist, verrückt zu werden. Obwohl ich auch jederzeit verstehe — jemand hat es gerade viel schlimmer, als ich.”

Roman sagt, dass seine Familie mehrere Möglichkeiten gehabt habe, zu flüchten, aber sie seien geblieben. “Einmal ist es uns nicht gelungen, innerhalb von 15 Minuten begleitet vom Geschützdonner das Leben von uns vier einzupacken und uns nach Kyjiw zu begeben. Wir haben die Verzweiflung überstanden, miteinander gesprochen. Wir haben beschlossen, in Tschernihiw zu bleiben. Ein anderes Mal haben wir den Vorschlag eines Freundes abgelehnt, und dann: fehlender grüner Korridor, Geschichten aus den sozialen Netzwerken darüber, wie Zivilisten erschossen werden, Kämpfe, Panik unter den Einwohnern. Und es gibt etwas, was mich hier hält. Ich will nicht wegfahren. Ich will das alles hier, auf heimischem Boden erleben und nicht irgendwo in den Karpaten von dem Sieg erfahren. Dennoch werde ich bei der ersten Gelegenheit meine Mädels in einen ruhigen Ort schicken und selbst hier bleiben.”

Roman sagt, dass jeder nächste Laut eine Kugel oder eine Rakete sein könne, die dich trifft.

“Es ist erschreckend, dass eine Bombe dein Haus oder das deiner Eltern, Verwandten, Freunde trifft. Es ist erschreckend zu hören, dass einer deiner Freunde getötet wurde. Es ist erschreckend, Blut zu sehen. Es ist erschreckend, die Folgen des Kriegs aufzunehmen. Es ist erschreckend, die Stadt zu verlassen. Es ist erschreckend, einfach die Straße entlang zu gehen. Es ist erschreckend, etwas zu machen, was heute dem Feind zu siegen oder jemandes Leben zu nehmen hilft. Der Gedanke, dass es nie endet, ist erschreckend. Es ist so erschreckend, dass man all diese Ängste nicht mehr bemerkt.”

Die Tochter, die Frau, alltägliche Routine und die Kamera sowie der Glaube an den Sieg — das alles hilft Roman, diese Erfahrung zu überstehen. Er träumt davon, zu überleben, und jeden Tag wird der Sieg näher. “Ich habe mit meiner Frau über den Traum gesprochen: Wenn wir unseren Luftschutzbunker verlassen, dann kommen wir nach Hause, trinken eine Flasche Sekt, die sie versteckt hat, aus, ziehen die schönste Kleidung an und gehen zu viert in der Stadt spazieren — gucken, wie sie geworden ist, Freunde treffen, sie umarmen, wir essen irgendwo etwas Leckeres zu Mittag, dann steigen wir in den Zug ein und fahren für einen Monat zu unseren Freunden in die Karpaten.”

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