Krieg. Geschichten aus der Ukraine

Ukrainer erzählen, wie sie im Krieg leben

“Ich will mein Land verteidigen. Ich will möglichst viel arbeiten. Ich will kämpfen”, Aljona, 27, Sumy

von | 5 März 2022 | Krieg. Geschichten aus der Ukraine, Sumy

 

Aljona wohnt in der Stadt Sumy mit ihrem Mann und ihrer Katze. Sie ist 27, Übersetzerin, Nachhilfelehrerin und Redakteurin bei einer englischsprachigen Wirtschaftszeitschrift. Vom Krieg habe sie per Telefon erfahren.

An den 24. Februar hat sie folgende Erinnerungen: „Gegen halb sechs Uhr morgens hat ein Freund meinen Mann angerufen: Er sagte, dass das Kind nicht in den Kindergarten gehen solle und dass an der Grenze Panzer stehen würden. Meine Eltern wohnen unweit der Grenze, im Schostka Kreis. Da habe ich angefangen, alle anzurufen.“

Das Gebiet Sumy hat eine ungünstige Lage. Russische Okkupanten bombardieren und beschießen Sumy und umliegende Ortschaften vernichtend. Trotzdem bleibt Aljona mit ihrer Familie.

„Ich bin nicht ausgereist. Ich hatte nicht einmal solchen Gedanken, denn ich will mein Land verteidigen. Ich will kämpfen.“

Allerdings sei es jetzt auch nicht so einfach, Sumy zu verlassen. Jeden Tag bestehe Gefahr eines Luftangriffs oder Artilleriebeschusses. Neulich haben die russischen Truppen ein ziviles Auto im Vorort beschossen. Drinnen war eine Familie mit drei Kindern, darunter ein Säugling. Die Frau habe nicht überlebt.

Wie Aljona erzählt, gab es in den ersten Tagen lange Schlangen vor Geldautomaten, Apotheken und Lebensmittelgeschäften. Danach haben sich alle zusammengerafft und angefangen, Molotowcocktails zuzubereiten, Kleidung für die territoriale Verteidigung und ukrainische Symbolik zu nähen, Panzersperren zusammenzuschweißen. Man druckt Flugblätter mit dem Text „Die Stadt Sumy hält durch“, hängt ukrainische Fahnen. In Viber und Telegram wurden Gruppen für die gegenseitige Hilfe erstellt: „In diesen Tagen kann ich eins sehen: Die Menschen haben sich vereint.“

Zurzeit besteht in Sumy ein dringendes Bedürfnis nach Medikamenten, besonders für Notfallsituationen. Aljona sammelt Listen und sucht bei den Menschen und in den Apotheken nach dem Notwendigen. Heute gibt es z.B. Spray gegen Halsschmerzen, Cholesterinsenker, Augentropfen. Alles andere fehlt.

Freiwillige Arbeit gehört zur Tagesordnung. Wegen des Kriegs könne Aljona keine Nachhilfestunden mehr geben. Deshalb fokussierte sie sich auf die Zeitschrift und den Austausch mit Ausländern. Im Namen der Staatlichen Universität Sumy schreibe sie Briefe an die ausländischen Partner und Wissenschaftler. Sie teile ihnen geprüfte Informationen über die Ukraine mit. „Mein Tag fängt damit an, dass ich meine Verwandten anrufe und frage, ob alles in Ordnung ist. Die Sorge um sie ist allgegenwärtig. Ich habe Verwandte nicht nur im Sumy Gebiet, sondern auch in Kyjiw, Charkiw. In Charkiw ist es kompliziert, da ist eine Freundin von mir mit einem kleinen Kind, und es gibt keine Verbindung mit ihnen. Ich weiß nicht, wie ich helfen kann.“

Aljona erzählt, sie habe nun eine neue Gewohnheit – die stätige Bereitschaft, jederzeit mit den Sachen und der Katze in den Luftschutzbunker zu laufen.

„Erste Abende haben wir in Luftschutzräumen verbracht. Keine Rede von dem vollwertigen Schlaf. Es passiert, dass wir morgens gleich in den Schutzraum müssen. Man verfolgt die ganze Zeit die Nachrichten, zuckt wegen der Geräusche auf der Straße zusammen. Dann kehre ich zu meinen beruflichen Pflichten zurück. Jetzt möchte ich möglichst viel arbeiten, solange wir noch Strom und Internetverbindung haben.“

Mit dem Krieg zurechtzukommen hilft der Kontakt zu den Verwandten, der Haushalt. Besonders die Zubereitung des Mittagessens, das Aufräumen.

„Im vollen Umfang, wie früher, kann ich all das nicht mehr tun. Ich bin beunruhigt. Ich nehme keine Beruhigungsmittel ein, aber ich rette mich durch die Arbeit, durch das Alltagsleben. Mein Mann beruhigt mich, und ich beruhige ihn… So leben wir. Außerdem rettet uns der Wunsch, jemandem zu helfen, wie wir können.“

Aljona glaubt an den Sieg der Ukraine. Antwortet, dass dies der erste Punkt in ihrem Plan für die nächste Zukunft ist.

„Ich kenne sonst keine so starke Nation. Ich habe vor, Kinder zu gebären, in der Ukraine zu leben. Ich will nicht weggehen. Ich weiß nicht, wie die Situation sein wird, aber ich werde mein Land verteidigen, ihm helfen, wo es notwendig ist. Ich bin überzeugt, dass uns eine bunte Zukunft erwartet.“

 

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