Krieg. Geschichten aus der Ukraine

Ukrainer erzählen, wie sie im Krieg leben

“Ich habe Angst, dass ich meine Verwandten und Freunde in anderen Städten verlieren könnte. Ich habe Angst, dass die Lebensmittel und das Wasser ausgehen werden”, Kateryna, 26, Berdjansk

von | 4 März 2022 | Berdiansk, Krieg. Geschichten aus der Ukraine

 

Illustrated by Liubov Miau

Kateryna ist 26, arbeitet als Analystin bei einem IT-Unternehmen und als Ökoaktivistin. In letzter Zeit hat Kateryna in Lwiw gelebt, aber einige Tage vor Beginn der groß angelegten Offensive der russischen Truppen hat sie ihre Familie in ihrer Heimatstadt Berdjansk besucht. Nun ist diese Stadt im Süden der Ukraine von der russischen Armee besetzt. Kateryna sitzt dort mit ihrer Mutter, ihrem minderjährigen Bruder und ihren Großeltern fest.

„Es gab eine Vorahnung, dass etwas Schlimmes passieren würde, aber ich dachte nicht, dass die russische Armee so massiv in der Ukraine schießen würde. Ich dachte, vielleicht würden meine Familie und ich genug Zeit haben, um mit dem Bus nach Saporischschja zu fahren. Dies geschah jedoch nicht wie erwartet, da die Offensive von verschiedenen Seiten begann. Selbst als die Busse noch fuhren, war es beängstigend, dass wir unter Beschuss gerieten“.

Wenige Tage nach Beginn dieses Krieges wurde die Stadt Berdjansk besetzt. Freunde schrieben, dass die Besatzer in die Wohnviertel gingen, in die Luft schossen und dass sie einer Frau in der Straße ihre Tasche voller Lebensmittel wegnahmen.

Die Bewohner von Berdjansk begannen, auf den Hauptplatz hinauszugehen und zu protestieren. Auch Kateryna und ihre Mutter gingen hinaus. Neben den russischen Panzern sangen sie die Hymne der Ukraine.

„Da waren meistens Leute im Alter 45-50 Jahren und hauptsächlich Frauen, weil Männer nicht daran teilnehmen durften. Jetzt haben wir Angst, sie rauszulassen. Meine Mutter hat meinem Bruder auch nicht erlaubt, rauszugehen“, sagte Kateryna. – Es waren auch viele von meinen Lehrern dabei. Im normalen Leben beteiligen sie sich nicht an sozialen Aktivitäten, sie leben und arbeiten, aber jetzt sind sie ausgegangen, um daran teilzunehmen”.

Kateryna wollte die Reifen der russischen Militärfahrzeuge aufschlitzen, aber die Nachbarn baten, dies nicht zu tun, weil sie Angst hatten, dass die Russen mit Schüssen reagieren könnten. Die Versammlung war also friedlich. Russland feuerte daraufhin eine Rakete auf den Hafen von Berdjansk ab. Kateryna nehme an, dass man die Menschen auf diese Weise einschüchtern wollte. Die Versammlung ging jedoch weiter, bis aus dem Gebäude des Stadtrats die Besetzer mit Sturmgewehren herauskamen.

Die Einwohner der Stadt, so erinnerу sie sich, versuchten, mit der russischen Armee zu sprechen. Sie waren ehrlich gesagt überrascht. Sie sagten uns: „Wir sind gekommen, um euch zu beschützen und zu retten.“ „Aber bis jetzt“, so Kateryna, „haben sie uns von Wasser und Internet gerettet“.

Als die russischen Soldaten in die Stadt einmarschierten, beschädigten sie Wasserleitung und verletzten einen Mitarbeiter des Wasserversorgens, der diese reparieren wollte. Sie schossen auf die Internetkabel, so dass fast niemand in der Stadt Internet hat. Die mobile Kommunikation in Berdjansk ist ebenfalls instabil.

Das Team der Stadtverwaltung erklärte, es gebe keine offizielle Zusammenarbeit mit den Besetzern und die Situation sei unter Kontrolle – die Leitungen werden repariert, Trinkwasser wird in die Stadtteile transportiert, am Stadtrand ist das Licht ausgegangen und es wird auch versucht, es wiederherzustellen. Die Geschäfte sind einen halben Tag lang geöffnet.

„Ich habe Angst, dass ich meine Verwandten und Freunde in anderen Städten verlieren könnte, vor allem in Städten, die unter schweren Bombenangriffen stehen. Vielleicht wird es eine Belagerung geben, und die Lebensmittel und das Wasser werden ausgehen – davor habe ich Angst. Ich habe Angst vor den Kämpfen in der Nähe von Mariupol, weil ich weiß, dass sich dort viele russische Fahrzeuge befinden. Zusätzlich kommt ihnen Verstärkung aus Berdjansk entgegen. Ich habe Angst vor den großen Verlusten. Jeder einzelne unserer Verluste ist sehr, sehr schmerzhaft“.

Als die Sirenen ertönen, sitzt Katerynas Familie im Flur. Sie haben keinen Keller. Der nächste Luftschutzbunker ist fünf Minuten zu Fuß entfernt. Er ist jedoch nur für eine kleine Anzahl von Personen ausgelegt. Außerdem ist es bei Bombenangriffen gefährlich, offene Straße entlang zu gehen.

„Der Krieg wird alltäglich. Und das ist es, wovor man Angst hat. In den ersten Tagen wurden wir ständig von den Explosionen erschüttert und jetzt – Na ja, es ist explodiert und dann? Ich gehe vom Fenster weg. Ich will nicht, dass wir uns daran gewöhnen. Ich träume davon, dass es wieder so wie früher wird – mit unserem Donbass, unserer Krim, ohne Krieg, ohne Russland. Damit wir selbst für unsere Zukunft verantwortlich sind. Ich möchte nicht daran denken, dass wir, wenn wir rausgehen, vielleicht nie wieder zurückkommen. Ich möchte meine Freunde sehen. Ich will ein normales Leben führen. Ich möchte mein Leben einen Monat im Voraus planen. Mindestens einen Tag im Voraus“.

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