Anna Gruver ist 25. Sie ist eine Dichterin, Essayistin und Kritikerin. Anna wurde in Donezk geboren, doch 2014, als der Krieg ausbrach, zogen ihre Eltern nach Charkiw und haben es beschlossen, ihr Leben hier neu aufzubauen.
Am ersten Frühlingstag, dem 1. März 2022, wurde Charkiw bombardiert.
„Heute Morgen bin ich um acht Uhr von einer extrem starken Explosion aufgewacht. Mein Haus befindet sich in der Nähe des Opernhauses in der Rymarsky-Straße. Es ist die Innenstadt – mitten im Zentrum. Auf fast allen Stockwerken wurden bei uns die Fenster eingeschlagen. Überall gab es Glassplittern. Es ist die Hölle. Hölle! Und aus irgendeinem Grund waren die Sirenen diesmal nicht zu hören“, sagt Anna.
Anna hat Charkiw nicht verlassen, weil es ihr Zuhause sei. Sie sagt, dass sie diese Stadt tief gespürt habe und mit ihr verschmolzen sei. Ihr Großvater habe hier gewohnt. Hier sei ihr alter Hund. Sie können einander nicht verlassen.
„Der Krieg hat das Zeitempfinden verändert. Ich weiß nicht, was gestern war und was vorgestern passiert ist. Ich weiß nur, dass sie die ganze Zeit bombardieren. Und heute haben die Explosionen bereits das Zentrum erreicht“, sagte sie.
Anna sagt, sie sei nicht wütend. Stattdessen versuche sie nun, ihre ganze Gefühle auf Glauben, Liebe zu ihren Verwandten und Dankbarkeit gegenüber den Verteidigern umzulenken.
Außerdem sei sie davon überzeugt, dass die Wahl der Menschen, die während des Krieges in den Städten bleiben, wichtig sei:
„Heute habe ich mit einer Bekannten aus einem anderen Bezirk in Charkiw gesprochen. Sie sah ein Auto in ihrer Nähe explodieren. Und sie ist verzweifelt, dass sie nichts tun konnte. Es kommt ihr immer so vor, als würde sie zu wenig tun. Ich versuche sie davon zu überzeugen, dass unsere Anwesenheit für die Verteidiger wichtig ist. So verstehen sie, dass sie nicht für leere Häuser kämpfen, sondern für lebende Menschen. Und wir müssen eine Mauer, eine Stütze für sie werden. Wir müssen uns nützlich fühlen, auch wenn unsere Hauptaufgabe jetzt nur darin besteht, zu überleben.“
Der Krieg vereint alles auf erstaunliche Weise. Anna bekomme Nachrichten von denjenigen, an die sie sich nicht mehr erinnere, sie bieten Unterstützung an und machen sich Sorgen. Die Nachbarn patrouillieren auf den Straßen und bewachen das Haus.
Das Allerschlimmste für Anna sei, die Kinder in den Bunkern anzuschauen. Wie verwirrt diese Kinder seien. Wie sie mit ihren Eltern kuscheln. Wie die Eltern versuchen, sie zu trösten. Wie sie mit Tieren spielen.
„Wenn ich das sehe, denke ich mir, dass wir das alles durchmachen müssen. Und nach dem Krieg so laut über dieses Grauen sprechen, dass es nie wieder passiert. Ich träume davon, nach dem Krieg ein Kinderbuch über diese Finsternis zu schreiben, damit unsere Kinder sie niemals in ihr Leben kommen lassen.”