“Dass unsere Wohnung beschossen wurde und sie ausgebrannt ist, habe ich zufällig aus den Sozialen Netzwerken erfahren. In der Wohnung hätte meine Großmutter sein können. Wir haben sie gebeten, ins Versteck zu gehen, aber es ist ungewiss, ob sie da im Moment des Angriffs war. Es gibt keine Verbindung mit Angehörigen seit zwei Wochen”, erzählt die 21-jährige Kateryna Radyk.
Im umzingelten und zerbombten Mariupol hat sie zwei Großmütter, einen Großvater, den Onkel mit seiner jungen Familie, viele Freunde und die beste Freundin, die sich noch im Februar auf die Hochzeit vorbereitete.
“Gerade vor dem Krieg haben wir mit ihr die Tickets nach Italien gewählt, um dort im März die Hochzeit zu feiern. Ob die Freundin noch am Leben ist, weiß ich nicht. Sie hat in der Nachbarschaft gewohnt und bis zum letzten Moment meine Angehörigen unter Beschuss besucht. Von den Fotos aus dem Internet habe ich erfahren, dass es in ihrem Hof jetzt einen großen Krater von einer Explosion gibt, und die Verbindung mit der Freundin ist unterbrochen.”
Katja selbst hat die letzten Jahre in Kyjiw gewohnt und Kulturologie studiert und im Kulturbereich gearbeitet. An den ersten Kriegstagen hatte sie vor, nach Mariupol zu fahren, und glaubte, dort sei es sicherer, da die Stadt bereits gelernt hatte, unter den Bedingungen möglicher Beschüsse zu leben. Aber dann ist der Strom in der Stadt verschwunden, und Kateryna verlor die Verbindung mit ihren Angehörigen. Ab und zu rief sie nur die Freundin an.
“Sie hat meine Großmütter und meinen Großvater besucht, ungeachtet dessen, dass das Nachbarhaus gegenüber schon gebrannt hat. Vor ihren Augen wurde es von einem Geschoss getroffen. Die Leute in Mariupol haben sich bereits an den Krieg gewöhnt und hatten keine große Angst vor Beschüssen, so wie in den anderen Regionen der Ukraine. Deswegen wollte die Mehrheit der Bewohner Mariupols die Stadt bis zum Letzten nicht verlassen oder ins Versteck runtergehen. Vielleicht ist es eine Art posttraumatische Störung – gedämpftes Gefühl von Selbsterhaltung. Aus diesem Grund haben meine Angehörigen die Stadt nicht verlassen, als es noch möglich war”, sagt Kateryna.
Innerhalb einer kurzen Zeit gab es noch schwache Verbindung neben dem ehemaligen Büro eines Mobilfunkanbieters. Dorthin kamen Menschen aus der ganzen Stadt, um eine kurze SMS zu schicken: “Ich bin am Leben” oder “Unser Haus ist in Ordnung.” Doch dorthin zu fahren war sehr riskant – die Stadt wurde alle 30-40 Minuten beschossen, deshalb konnte man unterwegs getötet werden. Dann verschwand auch diese Möglichkeit.
“Was mir bekannt ist, trinken die Menschen in Mariupol das Wasser jetzt von Wärmeleitungen und geschmolzenem Schnee. Die große Frage ist, was sie essen, da Lebensmittel schon lange aus sind und kein einziger Laden arbeitet.”
Zusammen mit ihren Eltern und ihrem jüngeren Bruder wohnte sie im Versteck unter der Nachbarschule in Kyjiw. Zum letzten Tropfen wurde der Moment, als die gemietete Wohnung von Schmugglern betroffen wurde.
“Ich bin in die Wohnung gegangen, um mich nach einer Woche im Versteck zu duschen und mich umzuziehen. Ich war allein in der Wohnung, als die Unbekannten begonnen haben, die Tür aufzubrechen. Ich war sehr erschrocken. Zum Glück konnten sie die Wohnung nicht aufbrechen und sind weggelaufen. Später haben die Nachbarn gesagt, dass es Schmuggler waren, die sich als Arbeiter der Versorgungsbetriebe oder territorialen Verteidigung präsentiert haben, um das Haus zu betreten”.
Nach dieser Geschichte beschloss Katerynas Familie, an einen sicheren Ort umzuziehen. Sie haben einen Beförderer gefunden, aber der Bus durfte nicht am Kontrollpunkt nicht weiterfahren. So verbrachten sie eine Nacht an der U-Bahn-Station “Teremky”.
“Wir hatten keine Ausrüstung dafür. Wir haben die ganze Nacht in der U-Bahn ohne Heizung verbracht. Das war körperlich schwer, aber das war nur eine Nacht. Ich kann mir kaum vorstellen, wie es den Mariupolern geht, wenn sie schon seit über zwei Wochen so wohnen”, sagt Kateryna.
Jetzt ist sie bei Freunden in Deutschland angekommen. Zusammen haben sie ein Wohltätigkeitsprojekt geschaffen – den Verkauf von NFT-Zeichnungen. Das gesammelte Geld wird für die Unterstützung der ukrainischen Streitkräfte verwendet. Auch spricht sie mit Auslandsjournalisten und erzählt ihnen über die Situation in der Ukraine, denn sie ist überzeugt, dass nur der gesellschaftliche Druck die europäischen Regierungschefs zwingen könne, der Ukraine noch aktiver auf verschiedene Weise zu helfen. Katja sieht sich immer die Fotos und Videos aus dem umzingelten Mariupol an und verliert nicht die Hoffnung, ihre Angehörigen am Leben und unverletzt zu sehen.
“In der EU zu bleiben, habe ich nicht vor. Ich hoffe, dass ich bald nach Kyjiw zurückkommen kann und werde die Ukraine wieder aufbauen”, sagt sie.