Illustrated by Mari Kinovych
Darja, 25, kommt aus Aqtöbe, der zweitgrößten Stadt Kasachstans. Sie studierte in Charkiw, wonach sie den Ukrainer Serhij heiratete und eine Wohnung in einem Charkiwer Neubau kaufte.
Darja wollte in der Stadt bleiben, auch als die ukrainischen Medien das erste Mal vom “Notgepäck” berichteten und auch als am Donnerstag, dem 24. Februar, etwa um fünf Uhr morgens die ersten Kriegsgeräusche zu hören waren.
“Wir wollten nicht glauben, was passiert”, erzählt die junge Frau. “Daher hatten wir zuvor keine Angst und haben keine Versuche unternommen, die Stadt zu verlassen.”
Am fünften Kriegstag, als die Besatzer die Wohnbezirke Charkiws beschossen hatten, erschrak das Paar zum ersten Mal richtig: “Mein Ehemann mit Eltern haben begonnen, mich unter Druck zu setzen, nach Lwiw zu fahren, und von dort könnte ich als Staatsbürgerin eines anderen Landes über Polen nach Kasachstan kommen. Das Problem liegt aber darin, dass wenn du im Osten stecken geblieben bist, dir kaum jemand noch helfen kann.”
Am Südbahnhof in Charkiw, wo die junge Frau mit ihrem Ehemann drei Stunden vor der Abfahrt des Evakuierungszuges eingetroffen waren, herrschte Chaos. “Als wir auf dem Bahnsteig angekommen sind, waren die Waggons bereits komplett verstopft, die Türen waren geschlossen, und auf dem Bahnsteig hat eine Menschenmenge gewartet, für die es keinen Platz mehr im Zug gab.” Sie mussten auf den nächsten warten. Aber als sie eingestiegen war und gesehen hatte, dass es keine Sitzplätze mehr gegeben hatte, und der ganze Gang des Abteilwagens voll von Menschen gewesen war, sprang Darja sofort aus dem Zug:
“Ich hatte vor allem Angst: vor der Menschenmenge, ohne Serjoscha (so nennt die Frau liebevoll ihren Ehemann) zu sein, beim Fenster ohne jeglichen Schutz zu stehen, welches auch irgendeine Bombe treffen könnte. Ich bin ausgestiegen und habe begonnen zu weinen. Wahrscheinlich war das eine Panikattacke.”
Noch größere Angst hatte Darja, mit dem Auto zu fahren. Auf den Wegen, die nach Charkiw führen, wird gekämpft. Beim Fahren kann man unter Beschuss geraten – sowohl auf dem Boden als auch aus der Luft. In dieser Pattsituation führen viele Charkiwer den Online-Kampf, indem sie Kommentare schreiben und mit den Russen streitend ihnen etwas beweisen. Auch Darja lässt ihr Handy nicht los, doch als Tochter des autoritären Kasachstans erwartet sie keine ernsten Proteste in Russland. “Ich weiß, dass unser Präsident mit großem Widerstand in Russland rechnet. Aber ich kann es gut nachvollziehen, was es bedeutet, unter der Staatspropaganda aufgewachsen zu sein. Daher finde ich, dass nur wenige auf die Straße gehen werden. Erstens, weil sie Angst haben, in den Knast zu geraten. Zweitens wegen der Mentalität.”
Derzeit ruft Darja alle Ukrainer auf, den Kopf nicht hängen zu lassen und an die Zukunft zu glauben. Denn sie ist überzeugt: Die Ukraine hat sie sicher.
Darja bittet uns, ihre Geschichte ohne den Nachnamen und ohne Foto zu veröffentlichen – sie fürchtet nach der Rückkehr nach Kasachstan in Gefahr zu geraten.