Krieg. Geschichten aus der Ukraine

Ukrainer erzählen, wie sie im Krieg leben

„Meine Mutter ist im Himmel, und meine Familie ist in der Hölle. Und ich bin siebentausend Kilometern entfernt“, Julia Jaschnikowa, 22, Tschernihiw – Phuket

von | 11 März 2022 | Chernihiv, Krieg. Geschichten aus der Ukraine

 

Illustrated by Liubov Miau

„Meine Mutter ist gestorben. Durch eine Granate. Vor sechs Tagen. Und ich bin so weit weg von meiner Familie“, sagt die 22-jährige Julia Jaschnikowa. Vor eineinhalb Monaten ist sie nach Thailand geflogen. Der Krieg hat sie dort eingeholt.

Am 3. März, um 12.15 Uhr osteuropäischer Zeit fiel eine Granate auf die Schule Nr. 21 in Tschernihiw, in welcher sich Julias gesamte Familie aufhielt. Mutter, Vater, Bruder und Tante. „Mein Bruder war in einem Schutzraum, und meine Mutter, mein Vater und meine Tante beschlossen aus irgendeinem Grund, hinauszugehen und über Pläne für die Zukunft zu sprechen. In diesem Moment bin ich mit einem Jetski auf dem Meer gefahren. Als ich hier in Thailand eine Schwimmweste angezogen habe, gab es in Tschernihiw eine Explosion, bei der meine Mutter ums Leben gekommen ist. Ich habe den Sonnenuntergang beobachtet und konnte nicht verstehen, was los ist. Mir ging es gut, aber ich habe etwas gespürt. Erst am nächsten Tag habe ich erfahren, dass meine Mama tot war.“

Eine der letzten Nachrichten, die die Mutter an Julia schrieb, lautete:

„Sie können nicht alle töten, nur diejenigen, die dazu bestimmt sind. Und ich werde noch leben. Bald blüht Flieder.“

Zuerst erfuhr Julia, dass die Schule bombardiert worden war. Dann sagte jemand, dass die Mutter und der Vater im Krankenhaus seien. Es stellte sich jedoch heraus, dass nur der Vater und die Tante im Krankenhaus waren, die Mutter war dort nicht.

„Papa hat sich bei mir gemeldet und hat gesagt,  dass er nicht weißt, wo Mama sei. Niemand weiß, wo Mama sei. Er hat geweint, und ich konnte nicht verstehen, warum.“

Am Abend und die ganze Nacht wurder nach Julias Mutter gesucht. In den frühen Morgenstunden schlief Julia ein, und als sie aufwachte, habe sie alles verstanden.

„Es ist, als würde man einen Keller öffnen – und dort versteckt sich die Wahrheit. In meinen Gedanken habe ich mich neben meiner Mama auf den Boden gelegt. In Tschernihiw hat man noch auf das Ende der Ausgangssperre gewartet, um ein anderes Krankenhaus zu überprüfen. Aber ich schien bereits zu spüren, dass meine Mutter in der Nähe war. Sie schien meine Hand zu nehmen… und ist verschwunden. Dann habe ich alles verstanden.“

Julias Mutter wurde in der Leichenhalle gefunden und an ihrer Kleidung und dem Ehering erkannt. „Papa wurde ihr Gesicht nicht gezeigt. Als die Granate in das Gebäude eingeschlagen hat, ist meine Mutter in der Nähe des Fensters gestanden.“

„Meine Mutter ist im Himmel, und meine Familie ist in der Hölle. Und ich bin siebentausend Kilometer entfernt“, sagt das Mädchen.

Am nächsten Tag sammelte Julia alle ihre Kräfte und leitete sie zur Evakuierung der Verwandten an – derjenigen, die überlebt hatten. Als sie in Sicherheit waren, atmete sie erleichtert auf.

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